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Die Blaue Bibliothek

Die Blaue Bibliothek erhebt sich wie ein stiller Wächter über den glitzernden Kanälen von Kerodesh, der sagenumwobenen Stadt, die selbst Legenden in den Schatten stellt.

Die Blaue Bibliothek von Kerodesh ist das pulsierende Herz der Nebellande – ein Ort, an dem Wissen und Geheimnisse verschmelzen. Ihre endlosen Hallen, erfüllt vom Flüstern alter Pergamente, bewahren das gesammelte Erbe vergessener Zeitalter. Doch die Bibliothek ist mehr als ein Archiv: Sie lebt, verändert sich und offenbart ihre Mysterien nur jenen, die ihrer würdig sind. Hier, wo die Realität selbst formbar scheint, beginnt jede Suche nach Wahrheit – und jeder Schritt birgt das Versprechen von Erkenntnis und Gefahr.

OT-Info – Alle Geschichten und Legenden aus der Blauen Bibliothek dürfen auf den Nebellande Veranstaltungen genutzt werden und dienen als Hintergrundinformation.

Arkantos Pein

Die wachsame Flamme

Prolog

Die Nacht, in der das alte Jahr sterben würde, war gekommen. Die Dunkelheit legte sich über das Land wie ein schwerer Mantel und der Wind, der durch die kahlen Äste pfiff, trug das Flüstern der Zeit mit sich. Inmitten der frostigen Stille versammelten sich die Anhänger Taranidas in einem kleinen Heiligtum, tief verborgen im Herzen eines Waldes. Hier, in einem Kreis aus leuchtenden Glyphen, ruhte der Ewigkristall, ein glühender Splitter von Taranidas Macht. Sein Licht war sanft, fast zögerlich wie das Flackern einer schwachen Kerze, doch selbst dieses schwache Glühen hielt die Finsternis auf Abstand.

Arkantos kniete vor dem Kristall. Sein Atem ging schwer und sein Herz hämmerte in seiner Brust. Er war jung, kaum älter als zwanzig Winter, und doch war er auserwählt worden, den diesjährigen Ritus zu vollziehen. Die Worte der Priesterin Kaelana hallten noch in seinem Kopf. „Du bist der Hüter dieses Kristalls, Arkantos. Seine Flamme darf nicht verlöschen. Du wirst ihn durch die Dunkelheit tragen und an den Altar des Lichts bringen, damit seine Essenz erneuert wird. Doch hüte dich vor den Mächten, die in den Schatten lauern. Dies ist nicht nur ein Ritual – es ist ein Kampf.“

Die Priesterin trat nun vor, gehüllt in einen Mantel aus tiefem Rot, der an die glühenden Schlachten erinnerte, die Taranida in den Träumen der Welt geführt hatte. Ihre Stimme war klar und fest, als sie die Zeremonie eröffnete: „Mit jedem Jahreswechsel fordert das Nichts sein Recht ein. Doch wir stellen uns dem Nichts entgegen. Im Namen Taranidas erneuern wir das Licht, das den Pfad weist und die Dunkelheit bannt. Möge der Hüter stark sein, möge er unerschütterlich bleiben!“
Ein Murmeln ging durch die Versammlung. Die Glühenden, die Krieger und Wächter des Glaubens, formten eine schützende Linie um den Kreis, während Arkantos den Kristall in die Hände nahm. Er spürte die Wärme, die von ihm ausging, und zugleich das Gewicht, als ob er die Hoffnung aller auf seinen Schultern trug. Dann begann er seinen Weg in die Finsternis.

Der Wald, der tagsüber still und friedlich war, schien in der Dunkelheit zu leben. Schatten bewegten sich zwischen den Bäumen und ein kaltes Flüstern kroch in Arkantos’ Ohren. Das Licht des Kristalls warf tanzende Muster auf den Boden, doch es schien, als versuchten die Schatten, es zu verschlucken.

Der erste Angriff kam lautlos. Ein wabernder Nebel kroch von den Rändern des Pfades heran, schwer und träge wie ein lebendiges Wesen. Es schien, als würde der Nebel nach ihm greifen, als wollten Hände aus kaltem Rauch seinen Atem stehlen. Arkantos wich zurück, zog einen Kreis mit dem Kristall um sich und sah, wie das Licht den Nebel zurücktrieb. Doch ein kalter Schauer blieb auf seiner Haut zurück. Weiter vorn knackte plötzlich ein Zweig. Arkantos blieb stehen, die Augen suchten die Dunkelheit ab. Ein leises Knurren erklang, erst von einer Seite, dann von der anderen. Zwei glühende Punkte blitzten auf, die Augen eines Wesens, das sich in den Schatten bewegte. Es war nicht von dieser Welt, ein Ding aus schwarzem Fell, dessen Umrisse sich ständig veränderten wie ein zuckendes Flammenbild. Seine Zähne blitzten, als es auf ihn zusprang.

Arkantos reagierte instinktiv. Der Kristall warf ein grelles Licht aus und das Wesen schrie auf, als ob das Licht es verbrannte. Es zog sich zurück, doch Arkantos spürte, dass es nur eine Warnung gewesen war. Mit jedem Schritt wurde die Dunkelheit dichter und die Geräusche lauter – Flüstern, Knurren, das leise Kratzen von etwas, das er nicht sehen konnte. Der Pfad, der so klar markiert gewesen war, begann sich aufzulösen und Arkantos spürte, wie Zweifel an ihm nagten. Die Schatten bewegten sich nicht nur um ihn, sie drangen in seinen Geist ein, flüsterten ihm Worte von Scheitern und Verzweiflung zu.

Doch er hielt den Kristall fest, das Glühen war alles, woran er sich klammern konnte. Arkantos wusste, dass er nicht anhalten durfte. Die Dunkelheit schien lebendig zu sein, als hätte sie ihre eigene Seele, die sich nach dem Licht des Kristalls verzehrte. Die Pfade, die zuvor fest und vertraut gewesen waren, hatten sich verändert. Wurzeln wanden sich wie Schlangen über den Boden und der Frost auf den Blättern der Bäume schien zu atmen, als würde die Kälte selbst ein Wesen aus der Finsternis sein.

Das Flüstern wurde lauter. Es kam aus den Tiefen seines eigenen Geistes, eine Kakofonie aus Stimmen, die nicht nur fremd, sondern erschreckend vertraut klangen. Sie nahmen den Klang von Freunden und Familie an, Stimmen, die er liebte. „Du kannst nicht bestehen, Arkantos. Gib es auf. Du bist zu schwach, um den Ritus zu vollenden. Lass los. Das Licht gehört nicht dir.“ Jeder Schritt wurde schwerer, als ob die Stimmen seine Beine mit unsichtbaren Ketten umschlangen. Er schüttelte den Kopf, versuchte, die Worte zu ignorieren. Doch die Finsternis drang tiefer, zog an seinen Ängsten, seinen Zweifeln.

Ein weiterer Schatten löste sich von einem Baum. Dieses Mal war es kein Tier, sondern ein Mensch – oder zumindest etwas, das wie ein Mensch aussah. Der Mann war gehüllt in Lumpen, mit leeren Augenhöhlen und einer Klinge aus schwarzem Metall, die vom Licht des Kristalls regelrecht getränkt wurde. „Hüter“, flüsterte die Gestalt, „das Licht gehört uns allen. Warum nur dir? Warum nicht mir?“ Das Wesen hob die Klinge, die zu singen begann, ein Klang wie brechendes Glas, der Arkantos fast zu Boden zwang. Er hielt den Kristall hoch, spürte, wie das Licht seine Stärke zurückholte. Die Gestalt fauchte und löste sich auf, doch der Angriff hatte Spuren hinterlassen – in seinem Geist und in seinem Herzen.

Weiter vorn wurde der Weg enger, die Bäume standen dicht und ließen keinen Platz für Umwege. Hier jedoch, tief in der Finsternis, lauerte die größte Gefahr. Die Wurzeln der Erde selbst begannen, nach ihm zu greifen, schlossen sich um seine Knöchel, als wollten sie ihn in die Dunkelheit hinabziehen. Arkantos keuchte, der Kristall leuchtete grell auf, doch dieses Mal ließen die Wurzeln nicht sofort los. Aus der Tiefe der Erde erklang eine neue Stimme, tiefer und dröhnender als alles, was er zuvor gehört hatte. „Arkantos … Hüter des Lichts … weißt du, was du trägst?“ Er fror ein. Dies war keine Stimme aus seinem Kopf, kein Schattenwesen, das versuchte, ihn zu brechen. Diese Stimme war real und uralt, ein Echo, das die Luft zum Vibrieren brachte. „Ich kenne deinen Namen“, sagte die Stimme, „und ich kenne dein Ende. Das Licht, das du trägst, wird dir nichts nützen, wenn du selbst der Dunkelheit gehörst.“

Eine riesige Gestalt erhob sich aus dem Boden. Schwarze Hörner krümmten sich wie blattlose Äste über einem Gesicht, das aus Schatten und Rauch bestand. Augen wie glühende Kohlen starrten ihn an, und ein Lächeln, kalt und triumphierend, zog sich über das Gesicht des Wesens. „Ich bin Vorith, der Schattengeweihte“, sagte es, „und dein Licht wird das meine werden.“ Die Wurzeln zogen fester, Arkantos konnte sich kaum bewegen. Er hielt den Kristall hoch, doch das Licht schien gegen Voriths Präsenz zu flackern, schwächer zu werden. „Gib mir den Kristall“, flüsterte Vorith, „und ich werde dich verschonen. Ich werde dich von der Last dieses Lichts befreien und dir ein neues Leben schenken – ein Leben, frei von Schmerz und Verantwortung.“

Arkantos schloss die Augen. Er konnte die Last fühlen, die auf ihm lag, schwer wie ein Berg, und die Dunkelheit schien ihn zu umfangen. Doch tief in seinem Inneren, unter all der Angst und dem Zweifel, spürte er einen Funken. Es war der Funke des Glaubens – an Taranida, an das Licht, das er trug, und an seine eigene Stärke. Arkantos zwang sich, die Augen zu öffnen. Die Dunkelheit um ihn herum schien dicker geworden zu sein, und der Ewigkristall in seinen Händen flackerte, als würde er unter dem Druck Voriths Präsenz erlöschen wollen. Doch Arkantos hielt ihn fest, zog Kraft aus der Wärme, die von ihm ausging und richtete seinen Blick auf die Gestalt vor ihm.

Vorith trat aus dem Schatten, und Arkantos konnte ihn zum ersten Mal wirklich sehen. Er war grotesk, eine Mischung aus Mensch und etwas, das niemals hätte existieren dürfen. Sein Körper war von Schatten umhüllt, die wie lebendige Flammen tanzten, aber keine Wärme ausstrahlten. Die Hörner, die sich wie gewundene Äste in die Dunkelheit reckten, waren mit Runen bedeckt, die in einem giftigen Grün glühten. Aus seinem Rücken sprossen schattenhafte Flügel, mehr ein Abbild von Macht als eine Funktion und seine Augen waren tiefe Kohlen, aus denen ein bösartiges Licht drang. „Sieh mich an, Hüter“, sagte Vorith, seine Stimme so tief, dass sie durch Arkantos’ Brust zu vibrieren schien. „Ich bin mehr, als du je sein wirst. Ich bin eine Manifestation des Willens, ein Diener des unvermeidlichen Endes. Und doch hältst du dich an einem Funken fest, der nichts als Illusion ist.“

Arkantos spürte, wie die Worte in ihm nagten, wie der Zweifel an seinem Glauben erneut an ihm zerrte. Doch er atmete tief durch und rief sich ins Gedächtnis, was Kaelana gesagt hatte. „Das Licht ist keine Illusion“, sagte er, seine Stimme fester, als er sich selbst zugetraut hätte. „Es ist das Versprechen, dass selbst in der Dunkelheit ein Funke Hoffnung existiert. Du wirst es nicht nehmen.“ Vorith lachte, ein Laut, der wie berstendes Gestein klang. „Dann stirb mit deinem Funken.“

Der gehörnte Herrscher stürzte vor, schneller, als Arkantos erwartet hatte. Die Klinge in seiner Hand schnitt durch die Luft und Arkantos sprang zur Seite. Der Schlag verfehlte ihn knapp, ließ jedoch den Boden unter ihm bersten, als wäre er aus dünnem Glas. Arkantos wirbelte herum und hielt den Kristall hoch. Ein grelles Licht brach daraus hervor und schnitt durch die Dunkelheit. Vorith schrie auf, seine Gestalt flackerte, als würde sie sich in Rauch auflösen, doch er formte sich schnell wieder und trat erneut vor.

Diesmal packten die Schatten Arkantos’ Beine, hielten ihn fest, und Vorith näherte sich mit einem grimmigen Lächeln. Doch Arkantos ließ sich nicht brechen. Mit aller Kraft, die er noch hatte, konzentrierte er sich auf den Kristall, spürte die Wärme, die tief in ihm brannte und ließ sie durch seinen Körper fließen. „Taranida, steh mir bei!“, rief er, und das Licht des Kristalls explodierte. Die Schatten wurden zurückgeworfen, und Vorith schrie vor Schmerz. Arkantos stürzte vor, riss den Kristall in einem letzten Akt des Mutes hoch und drückte ihn gegen Voriths Brust. Das Licht brannte durch den Schattenkörper des gehörnten Herrschers, und ein Schrei, der Himmel und Erde zu zerreißen schien, hallte durch die Nacht.

Als der Schrei verhallte, war Vorith verschwunden. Der Wald war still, die Dunkelheit schien sich zurückgezogen zu haben. Arkantos stand zitternd da, den Kristall in Händen, dessen Licht nun  sanft glühte. Er hatte gesiegt. Sein Weg führte ihn weiter und die Bäume wichen allmählich zurück, bis sich vor ihm eine Lichtung auftat. In der Mitte erhob sich der Altar des Lichts, ein schlichter Steinblock, in den Runen eingemeißelt waren, die vom Licht des Ewigkristalls wider strahlten. Doch eine seltsame Kälte kroch über den Boden.

Arkantos taumelte auf die Lichtung hinaus, das Licht des Ewigkristalls in seinen Händen zitterte schwach, doch es glühte noch. Der Altar des Lichts, eingehüllt in ein sanftes Schimmern, erhob sich vor ihm, schlicht und unberührt. Arkantos spürte, wie die Last von seinen Schultern zu weichen schien, als ob die Dunkelheit ihn endlich losgelassen hätte. Er fiel auf die Knie und blickte zum Kristall in seinen Händen. Sein Licht war schwächer geworden, aber es lebte noch, eine kleine Flamme der Hoffnung, die den Ritus abschließen konnte. Mit zitternden Händen erhob er sich und trat an den Altar. „Taranida“, flüsterte er, seine Stimme heiser, „ich habe den Kristall bewahrt. Möge dein Licht uns weiterhin schützen.“ Er hob den Kristall, bereit, ihn auf den Altar zu legen und das Ritual zu vollenden. Doch bevor er ihn absetzen konnte, erstarrte er.

Etwas stimmte nicht. Die Lichtung, die zuvor friedlich und still gewesen war, schien sich zu verändern. Die Luft wurde schwer, das sanfte Glühen des Altars begann zu flackern und ein leises, tiefes Knurren erhob sich aus der Dunkelheit jenseits der Bäume. Arkantos blickte sich um, sein Herz schlug schneller. „Nein“, murmelte er, „das kann nicht sein.“ Ein kalter Hauch strich über seinen Nacken, und eine Stimme erklang, tief und triumphierend. „Du glaubtest wirklich, du hättest gewonnen, Hüter?“ Arkantos wirbelte herum. Vorith stand am Rand der Lichtung, seine gewaltige Gestalt von Schatten und Hörnern beherrscht, die sich nun noch mächtiger und dunkler als zuvor erhoben. Seine Augen glühten mit einem höhnischen Licht, und ein Lächeln zog sich über sein groteskes Gesicht. „Dein Licht war stark, doch nicht stark genug.“

Arkantos wollte den Kristall heben, doch sein Licht begann zu schwinden. Vorith trat näher und mit jedem Schritt wurde die Dunkelheit tiefer. Der Kristall flackerte, kämpfte, doch schließlich erlosch das Licht völlig. Ein Schrei erklang und Arkantos’ Herz brach fast, als er erkannte, dass es von der Lichtung kam, wo die Priesterin Kaelana und die glühenden Wachen gewartet hatten. Er drehte sich um und sah weit unten im Tal, wie sie sich unter der wachsenden Dunkelheit wanden, ihre Körper von einem schwarzen Schleier umhüllt. „Kaelana!“, rief er, doch die Priesterin wandte sich zu ihm um, ihr Gesicht inzwischen eine schattenhafte Fratze. Eine nach der anderen vergingen die Wachen und die Priesterin, ihre Gestalten lösten sich auf, bis nichts als zischende Schatten übrigblieb. Diese sammelten und formten sich zu Wesen, die Voriths dunkle Präsenz umgaben.

„Sie gehören jetzt mir“, sagte Vorith, während seine Diener knieten, „und so wird es auch mit dir sein, Hüter. Doch nicht heute.“ Vorith hob eine seiner massiven Hände und der Altar, der einst vom Licht Taranidas erfüllt gewesen war, verlor sein Glühen. Die Runen verblassten und der Stein wurde stumpf, kalt und leblos. Eine unheilvolle Stille legte sich über die Lichtung. Arkantos fiel auf die Knie, der erloschene Kristall in seinen Händen. Die Dunkelheit kroch über ihn, schien ihn verschlingen zu wollen, doch sie hielt inne. „Du bist gescheitert“, sagte Vorith, sein Ton triumphierend und grausam. „Doch der Ritus wird wiederkehren. Es wird immer einen Nächsten geben. Vielleicht wird er stärker sein als du … oder auch nicht.“ Mit einem letzten höhnischen Lachen verschwand Vorith, zusammen mit seinen schattenhaften Dienern, die einst Arkantos’ Gefährten gewesen waren. Die Lichtung war leer. Der Altar wartete, kalt und still, als Zeugnis des Versagens. Arkantos blieb allein zurück, die Dunkelheit um ihn schien ihn fast zu erdrücken.

Arkantos kniete auf der kalten Erde, die Hände um den erloschenen Kristall geklammert, als könnte er ihn mit bloßem Willen wieder zum Leben erwecken. Doch nichts geschah. Der Stein war schwer und leblos, nur noch ein Symbol für sein Scheitern. Die Dunkelheit, die Vorith hinterlassen hatte, war keine äußere, sondern eine, die in ihm wuchs, die ihn von innen heraus zerfraß. „Ich habe versagt“, flüsterte er, die Worte kaum hörbar. Seine Finger zitterten, und sein Atem kam stoßweise, während er den Altar anstarrte. Der einst glühende Stein, der so viele Male zuvor das Licht Taranidas in die Welt getragen hatte, war nun nur noch ein leeres, kaltes Relikt. Arkantos wusste, dass der Schutz der Göttin gebrochen war, dass die Welten in Gefahr waren. Nicht heute, nicht morgen – aber bald. Die Stimmen, die zuvor nur aus den Schatten geflüstert hatten, waren jetzt in seinem eigenen Kopf. „Schwach. Du hättest stärker sein sollen. Sie sind deinetwegen verloren. Es ist deine Schuld.“ Arkantos hielt sich die Ohren zu, als ob das die Worte verstummen lassen könnte. Doch es half nichts. Sein eigener Geist war zu seiner größten Pein geworden, ein Ort, aus dem er nicht entkommen konnte. „Kaelana …“ Seine Stimme brach, als er an die Priesterin dachte, an ihre Worte, ihre Stärke. Inzwischen war sie fort, verschlungen von der Dunkelheit, die er nicht hatte aufhalten können. Seine Hände griffen fester um den Kristall. Der Gedanke kam plötzlich, ein dunkler, verzweifelter Gedanke, der sich wie eine Klinge in seinen Verstand bohrte. „Es ist vorbei“, sagte er zu sich selbst. „Ich kann es nicht rückgängig machen. Aber ich kann es beenden.“ Sein Blick fiel auf sein Schwert, das neben dem Altar lag, verlassen und einsam wie er selbst. Die Dunkelheit in ihm flüsterte süß, fast verführerisch. „Nimm es. Du bist nichts mehr. Aber du kannst die Stimmen zum Schweigen bringen.“ Arkantos griff nach der Klinge. Sie war kalt und schwer, doch in ihrer Kälte fand er eine seltsame Art von Trost. Er erhob sich langsam, schwankend, und trat vor den Altar. Seine Augen suchten die Runen, die er einst so oft gesehen hatte, doch nun waren sie verschwunden. „Taranida“, flüsterte er, „vergib mir. Ich war nicht stark genug.“ Mit einem letzten, tiefen Atemzug hob Arkantos die Klinge. Sie schimmerte schwach im Licht des Mondes, das kaum durch die dunklen Wolken brach. „Vielleicht“, sagte er, seine Stimme jetzt fest, „wird der Nächste stärker sein.“

Er führte die Klinge an seine Brust, und mit einem einzigen Stoß beendete er, was die Dunkelheit begonnen hatte. Der Kristall fiel aus seinen Händen, als er zu Boden sank. Er rollte ein Stück weit und kam vor dem Altar zur Ruhe. Doch das Licht blieb aus. Die Lichtung war still. Der Altar, der Hüter, der Kristall – alle waren nun Zeugen eines Rituals, das nicht vollendet worden war. Der Wind erhob sich, trug das letzte Flüstern von Arkantos’ Namen mit sich, bevor die Finsternis die Stille verschlang. In den Tiefen des Nichts jedoch, wo Vorith und seine Schatten warteten, erklang ein Lachen. Dunkel, triumphierend und voller Vorfreude auf den nächsten Hüter, der das Licht tragen würde, auf den nächsten Schutz, der fallen würde und auf den Moment, an dem sich die Prophezeiung erfüllen würde.

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